Einfach mal durchatmen! Denn wie wir atmen, wirkt sich unmittelbar auf unser Stresslevel aus. Durch gezielte Atemübungen lassen sich Aufregung, Anspannung und Stress rasch und ohne Nebenwirkungen vermindern.
In diesem Artikel stelle ich dir drei wissenschaftlich fundierte Atemübungen zur Stressbewältigung vor.
Physiologisches Seufzen
Manchmal ist es notwendig, schnell die Anspannung zu senken. Steigt deine Erregung zum Beispiel vor einem wichtigen Vorstellungsgespräch, bei einer Panikattacke oder angesichts eines tobenden Kleinkinds, kannst du die Situation nicht verlassen, um wieder „runterzukommen“. Du musst dich also in der Situation rasch beruhigen. Eine effektive Möglichkeit ist das Physiologische Seufzen.
Wie gehst du dabei vor?
- Nimm einen Atemzug durch die Nase.
- Nimm einen zweiten tieferen und kürzeren Atemzug durch die Nase.
- Atme lang und hörbar durch den Mund aus.
- Wiederhole das Seufzen bis zu drei Mal hintereinander.
Wenn das Einatmen durch die Nase oder das Ausatmen durch den Mund für dich unangenehm oder nicht möglich sind, kannst du diese Vorgabe auch variieren. Wichtig ist aber der Atemrhythmus.
Wirkungsweise
Unsere Lunge besteht aus Millionen von kleinen Bläschen, die in Stresssituationen in sich zusammenfallen. Die doppelte Einatmung beim Physiologischen Seufzen bringt das zwei- bis fünffache Atemvolumen eines normalen Atemzuges, wodurch die Lungenbläschen schnell wieder aufgefüllt werden. Wenn der Gasaustausch zwischen Sauerstoff und Kohlendioxid im Körper wieder richtig funktioniert, sinkt unser Stresslevel.
Mehr dazu
Dr. Andrew Huberman, ein amerikanischer Neurowissenschafter, der an der Standford Universität forscht, hat sich intensiv mit dem Physiologischen Seufzen als Methode zum Stressabbau beschäftigt:
In diesem Video erklärt er die Wirkungsweise und das Vorgehen (auf Englisch).
In dieser aktuellen Studie vom Jänner 2023 widmet er sich gemeinsam mit anderen der Effektivität vom Physiologischen Seufzen zur Verbesserung der Stimmung und zur Senkung des physiologischen Erregungsniveaus (auf Englisch).
Eine weitere Studie zum Thema Seufzen in Stresssituationen stammt von Elke Vlemincx et al.: A sigh following sustained attention and mental stress: effects on respiratory variability.
Der im Video verwendete Ball heißt Hoberman Sphere Ball und ist in verschiedenen Größen in Spielzeuggeschäften erhältlich.
Fünf-Finger-Atmung
Wenn du dich ängstlich und gestresst fühlst und in deinem Kopf die Gedanken nur mehr um Kummer und Sorgen kreisen, hilft die Fünf-Finger-Atmung, um dich wieder zu beruhigen und einen klaren Kopf zu kriegen.
Wie gehst du dabei vor?
- Strecke eine Hand vor dir aus, die Handfläche ist dabei offen und schaut zu dir.
- Mit dem Zeigefinger der anderen Hand streichst du den kleinen Finger entlang von unten nach oben zur Fingerspitze und atmest dabei ein.
- Beim Ausatmen streichst du von der Fingerspitze nach unten.
- Wiederhole dieses Muster bei den anderen vier Fingern.
- Wenn du beim Daumen angekommen bist, wiederhole den Vorgang beim Daumen beginnend.
Ob du durch die Nase oder durch den Mund ein- und ausatmest, kannst du frei wählen. Wichtig ist, dass du deinem Zeigefinger zusiehst, während er an den Fingern entlang streicht und dabei möglichst ruhig und tief atmest.
Wirkungsweise
Unser Gehirn kann nur eine begrenzte Anzahl von Informationen zeitgleich verarbeiten. Bei der Fünf-Finger-Atmung konzentrieren wir uns einerseits auf die Atmung, zum anderen werden sensorische Informationen vom Zeigefinger der einen Hand sowie von den fünf Fingern der anderen Hand an das Gehirn gesendet. Da wir dem Zeigefinger während des Entlangstreichens zusehen, ist auch der Sehsinn involviert. Das Gehirn ist intensiv mit der Verarbeitung von Informationen aus verschiedenen Sinnesbereichen beschäftigt, sodass Angst und Sorgen in den Hintergrund treten. Kommen sie nach der Übung wieder zurück, so sind sie meist nicht mehr so heftig, da während der Übung eine körperliche Beruhigung (Senkung der Herzfrequenz, ruhigere und tiefere Atmung) eingetreten ist.
Mehr dazu
Dr. Judson Brewer, ein amerikanischer Neurowissenschafter und Psychiater, hat die Fünf-Finger-Atmung in den letzten Jahren bekannt gemacht. Er ist Direktor für Forschung und Innovation am Brown University´s Mindfulness Center in Rhode Island.
In diesem Video erklärt er die Wirkungsweise und das Vorgehen (auf Englisch).
Vagusnerv-Atmung
Gehörst du zu den Menschen, die nie richtig abschalten können? Laufen dein Körper und dein Geist auch in ruhigen, harmonischen Situationen immer auf Hochtouren? Dann kann es helfen, den Vagusnerv zu trainieren. Der Vagusnerv ist ein sehr langer Hirnnerv, der zu dem Teil unseres Nervensystems gehört, der für die Entspannung zuständig ist. Wenn es dir schwer fällt, zwischen Anspannung und Entspannung zu wechseln, kann es hilfreich sein, dem Vagusnerv im Alltag mehr Beachtung zu schenken. Eine Möglichkeit dafür ist, das vorgestellte Atemmuster immer wieder zwischendurch einzubauen.
Wie gehst du dabei vor?
- Das Atemmuster ist sehr einfach. Das Grundprinzip ist, die Ausatmung im Verhältnis zur Einatmung zu verlängern.
- Nimm einen Atemzug durch die Nase. Zähle dabei langsam bis 4.
- Atme durch den Mund aus. Zähle dabei langsam bis 6.
- Wiederhole dieses Atemmuster für mindestens 2 Minuten.
Wenn das Einatmen durch die Nase und/oder das Ausatmen durch den Mund für dich unangenehm oder nicht möglich sind, kannst du diese Vorgabe beliebig variieren.
Wirkungsweise
Der Vagusnerv beeinflusst unter anderem, wie schnell dein Herz schlägt. Beim Einatmen schlägt es schneller, beim Ausatmen stimuliert der Vagusnerv die Ausschüttung eines Neurotransmitters im Gehirn, der den Herzschlag verlangsamt. Unser Herz schlägt nie ganz gleichmäßig, sondern passt sich den Gegebenheiten an. Je besser es sich anpassen kann, desto besser gelingt es dir, zwischen Anspannung und Entspannung zu wechseln. Ist diese Regulation aus dem Gleichgewicht geraten, kannst du über dieses einfache Atemmuster den Vagusnerv und damit deine körperliche Entspannung trainieren.
Mehr dazu
In diesem Beitrag auf Psychology Today führt der ehemalige Ausdauersportler und Wissenschaftsjournalist Christopher Bergland die Vorzüge der Vagusnerv-Atmung aus (auf Englisch).
Diese beiden Studien belegen die positiven Effekte von längerer Ausatmung auf den Vagusnerv und damit einhergehend auf die Herzratenvariabiliät:
Breath of Life: The Respiratory Vagal Stimulation Model of Contemplative Activity von Roderik J.S. Gerritsen und Guido P.H. Band
How breathing can help you make better decisions: Two studies on the effects of breathing patterns on heart rate variability and decision-making in business cases von Marijke De Couck et al.
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